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Wie kann man einen sterbenden Menschen in den Tod begleiten?

Die Themen Sterben und Tod haben zuletzt die Medien geflutet. Selbst Netflix widmete mit „Das letzte Wort“ (u.a. mit Anke Engelke) dem Thema Tod insgesamt 6 Folgen. Natürlich beschäftigen wir uns lieber mit den schönen Dingen des Lebens. Was aber, wenn plötzlich ein Schicksalsmoment kommt und wir nicht darauf vorbereitet sind? Als mir heute vor 2 Jahren mein Bruder die Schreckensdiagnose Glioblastom (bösartiger Hirntumor) mitteilte, war ich weit davon entfernt zu begreifen, zu verstehen und zu realisieren, dass wir ihn schon ein halbes Jahr später in den Tod begleiten werden – geschweige denn, dass ich wusste wie das geht. Letztlich glaube ich immer noch, dass wir als Familie viel richtig machten, in dem wir auf unser Gefühl gehört und aus Liebe gehandelt haben. Dennoch hätte ich gerne schon früher gewusst, was „palliativ“ bedeutet und was die finale Sterbephase ist. All das hätte nichts verändert in seinem Sterbeprozess – aber mit mehr Wissen und Verständnis hätte ich noch bewusster für ihn da sein können und letztlich auch für meine Familie und mich selbst. Warum also sollten wir uns nicht einmal damit beschäftigen, wie man einen sterbenden Menschen in den Tod begleitet?

Mit dem Wissen, dass ein Glioblastom meistens tödlich endet, saßen wir zusammen und waren erstmal wütend und schlichtweg desillusioniert: Wie kann so etwas möglich sein. Gerade haben wir noch Weihnachten gefeiert und jetzt das: Zusammenbruch, Fahrt ins Krankenhaus und eine Diagnose, die alles veränderte – vor allem, weil sie ihm und uns direkt den Weg zur Hoffnung abgeschnitten haben. An der Weggabelung zum Leben stand ein STOPP-Schild: Keine Weiterfahrt möglich. Nur noch der Abgrund – ohne zu wissen, wie weit dieser noch entfernt war. Ja, wir haben uns darüber unterhalten, welche medizinischen Maßnahmen wir ergreifen oder unterlassen und dass er nach seinem Tod verbrannt werden möchte. Aber nein, da stellten wir ihm nicht die Frage, wie er in den Tod begleitet werden möchte –wir wussten es ja selbst nicht. Woher denn auch! Wir waren nicht darauf vorbereitet. Zudem ging es täglich erstmal um unfassbar viel Papierkram, unzählige Termine im Krankenhaus, bei Ärzten und sozialen Einrichtungen. Da war alles andere noch weit weg.

Wann beginnt das Begleiten und was bedeutet es zu begleiten?

Untersuchungen, Operationen, Befunde und die Diagnose mit den Worten „Ach, sie wissen noch nicht, dass sie nicht mehr lange zu leben haben.“ Unvorstellbar; und doch ist es genau so geschehen. Deshalb ist das für mich der Moment! Ab jetzt heißt es: Begleiten. Was für ein Schlag ins Gesicht. Ein K.O. ohne Ansage für den Betroffenen. Als hätte jemand Dir den Lebens Stecker gezogen, einfach so mit „Hey, Dein Licht ist aus.“ Jetzt heißt es erstmal im Dunkeln zu sitzen und damit klar zu kommen. Alle Menschen, die mit einer derartigen Diagnose konfrontiert sind, haben meinen größten Respekt. Wer weiß von sich, ob er sich in dieser tiefsten und dunkelsten Stunde seines Lebens nicht aufgeben würde? Genau deshalb setzt meiner Ansicht nach hier das Begleiten ein. Was das heißt lässt sich nicht pauschal formulieren, da jede Lebenssituation anders ist, jeder Mensch anders denkt, fühlt und handelt. Es ist auch eine persönliche Entscheidung wie weit der Begleiter gehen kann und möchte. Aus meiner Sicht gehört zum guten Begleiten, authentisch zu bleiben und seine eigenen Grenzen zu überwinden. Mein Bruder hatte die ganze Zeit über seine wundervolle Frau an seiner Seite. Es ist ein Akt der reinsten Liebe, denn hier wird nur noch an das Wohl des Anderen gedacht und danach gehandelt. Daher empfehle ich dem Begleiter, sich für die eigenen Emotionen, Kräfte und persönlichen Momente des Schmerzes einen Anker zu suchen.

Wie kann man einen Sterbenden begleiten?

Meiner Ansicht nach vor allem damit: Da zu sein – aufrichtig und authentisch. Was es noch sein kann – und das hier ist nur eine kleine Auswahl: Verständnis zeigen, Geduld aufbringen, zu Terminen begleiten, eine angenehme Atmosphäre schaffen, Wünsche erfüllen, im immer schwieriger werdenden Alltag begleiten, bei der Körperpflege und -hygiene unterstützen, Wutanfälle aushalten, Rückschläge wegstecken, zuhören, hinschauen, anpacken, weinen, lachen, spazieren gehen, im Rollstuhl schieben und realisieren, dass der geliebte Mensch sich in seinem Wesen, Aussehen und Verhalten verändert. Denn in einem Moment, in dem Du Deine ganze positive Energie und Liebe gibst, kann es Dir passieren, dass sich der Sterbende heftig mit Dir streitet. Du verstehst die Welt nicht mehr. Der Sterbende aber will Dir damit den Abschied „leichter“ machen. Es sind Ausnahmezustände, von denen wir uns im normalen Alltag kein Bild machen können.

Ihr fragt euch, was Sterbende brauchen?

Mit dem Fortschreiten der Erkrankung wird eine Sache immer schwieriger: Den Sterbenden direkt danach fragen zu können, was er braucht. Gerade bei einem Glioblastom ist diese Kommunikation irgendwann nicht mehr möglich. Es kommen keine Antworten mehr. Was dann noch hilft: Auf kleine Zeichen zu achten. Denn was die Sterbenden in der Regel bis zum Ende können ist: hören! Also sollte man sie direkt fragen was sie brauchen. Es geht schließlich darum was ihnen hilft und nicht uns als Begleiter. Seid da, schenkt ihm Nähe, Körperkontakt, zeigt ehrliche Gefühle, aufrichtiges Interesse und bleibt offen in eurer Wahrnehmung. Vor allem hört nicht auf mit ihm zu sprechen und ihn weiter Anteil an eurem Leben haben zu lassen.

Quo vadis: Palliativstation, Hospiz oder zu Hause?

Ist die Erkrankung soweit fortgeschritten, dass keine Therapie mehr helfen kann, steht die Entscheidung an, den Sterbenden auf einer Palliativstation im Krankenhaus, im Hospiz oder zu Hause weiter zu begleiten. Jetzt geht es einzig und alleine nur noch darum, es ihm so angenehm wie möglich zu machen und auf seine verbleibende Würde zu achten. Unabhängig vom gewählten Ort, setzt in allen drei Fällen die Palliativ Versorgung ein. Ein spezielles Team aus Ärzten, Pflegekräften, Sozialarbeitern und Seelsorgern, ergänzt um ehrenamtliche Helfer sind rund um die Uhr verfügbar und unterstützen sowohl den Betroffenen als auch seine Angehörigen. Es entsteht eine außergewöhnliche Atmosphäre, die in dem Wissen um das Endliche einem warmen aber vernebelten Herbsttag gleicht. In einer Zeit der heftigsten Emotionen und der unfassbaren Klarheit um den Verlust, ist diese Begleitung eine wundervolle Unterstützung für alle. Hatte ich bis zu dem Zeitpunkt überhaupt keine Vorstellung davon, was Palliativ-Care bedeutet, so wurde mir auf einmal bewusst, wie wichtig und hilfreich diese Arbeit ist und wie sehr wir alle im Schicksalsmoment davon profitieren können.

Das Begleiten geht in die traurigste und schwierigste Phase über.

„Machen sie sich darauf gefasst, dass es noch dieses Wochenende passieren kann.“ waren die Worte der Palliativ-Pflegerin an einem Freitagnachmittag. Sie hatte das Todesdreieck in seinem Gesicht gesehen. Am Abend des darauffolgenden Tages war der Moment da, von dem wir wussten, dass er kommen wird. Wir hatten losgelassen, wollten ihm ein längeres Leiden und Festhalten ersparen und dachten vielleicht, darauf vorbereitet zu sein. Aber auf das was zwischen Freitagnachmittag und Samstagabend passiert ist, war niemand von uns vorbereitet. In mehreren Phasen löste sich die Lebensenergie aus seinem physischen Körper. Jede der 5 Phasen (Erde,
Wasser, Feuer, Luft und Raum) war gekennzeichnet von bestimmten Symptomen, die er innerlich empfand, die aber wir als Außenstehende beobachten konnten. Wir wussten zu dem Zeitpunkt aber noch nichts davon – daher war da ein Gefühl von Hilflosigkeit. Dabei wollten wir ihm helfen, ihm jegliches Leid ersparen, ihn irgendwie hinübertragen. Alles was wir zu dem Zeitpunkt tun konnten: Rund um die Uhr an seiner Seite zu sein, seine Hände zu halten, ihm wenige aber bewusste Worte zu sagen und ihm all unsere Liebe zu schenken.

Und dann ist er da, der letzte Atemzug eines geliebten Menschen. Es ist als würde jemand einen Film anhalten, das eigene Herz für ein bis zwei Sekunden ebenfalls stillstehen. Wie das Aufwachen aus einem Traum, irritiert, ob es sich um einen Traum handelt: Die Erkrankung, das Begleiten, das Loslassen, die Angst, der Verlust. Nein, kein Traum. Es ist das wahre Leben oder besser gesagt das Ende eines Lebens. Denn in dem Moment verabschieden wir uns nicht einfach von einem kranken Menschen, sondern realisieren das Lebensende eines geliebten Menschen. Nichts worauf wir uns emotional wirklich vorbereiten könnten

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